Anzeige

„Künstliche Intelligenz wird immer mehr zum Marketingbegriff“

PD Dr.-Ing. Sven Wachsmuth

PD Dr.-Ing. Sven Wachsmuth

 

Smarte Technologien können Menschen mit Beeinträchtigungen helfen, den Alltag selbstbestimmter zu meistern. Welche Hürden gilt es noch für Forscher zu überwinden? Kann auch ein intelligenter Waschtisch helfen? Werden KI-Lösungen die Zahnmedizin tatsächlich umkrempeln? PD Dr.-Ing. Sven Wachsmuth, Leiter des Zentrallabors des Exzellenzclusters Kognitive Interaktionstechnologie (CITEC) an der Universität Bielefeld, schildert im Interview mit DZW-Redakteurin Joanna Cornelsen seine Sicht auf die künstliche Intelligenz.

Herr Wachsmuth, Sie sind auf kognitive Interaktionstechnologien wie der intelligente Waschtisch (auch als TEBRA = TEeth BRushing Assistance bekannt) spezialisiert. Was müssen smarte Systeme, die im Alltag von Senioren und Menschen mit Behinderungen zum Einsatz kommen, besonders gut können?

PD Dr.-Ing. Sven Wachsmuth: Im Alter gibt es ganz unterschiedlichen Unterstützungsbedarf. Interaktionstechnologien wie der intelligente Waschtisch, der die Nutzer bei der Sequenzierung von Alltagstätigkeiten (hier Zähneputzen) unterstützt, helfen dabei, Aufgaben in einfache Teilschritte zu zerlegen und den Nutzer oder die Nutzerin in der richtigen Reihenfolge hindurch zu führen. Hierfür muss die Handlung über Sensoren wahrgenommen werden. Eine der größten Herausforderungen für die intelligenten Systeme ist dabei, mit einer teilweise sehr individuellen Handlungsdurchführung klarzukommen und trotzdem kritische Abweichungen vom Handlungsschema zu erkennen. Eine der größten Hürden für den Alltagseinsatz ist die Erkennung des Kontextes einer Handlung. Das intelligente System TEBRA basiert auf einer klaren Vorerwartung, dass die Person am Waschtisch auch tatsächlich die Zähne putzen möchte. Aktivitäten außerhalb dieser Vorerwartung werden weder erkannt noch unterstützt und können zu Fehlern führen, die für den Nutzer oder die Nutzerin nicht nachvollziehbar sind und damit zu einem unkontrollierten Abbruch der Assistenz führen können.

Der intelligente Waschtisch kann Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen wie Demenz, Epilepsie und Autismus beim täglichen Zähneputzen unterstützen. Das System hat sich nach Abschluss der Entwicklungsphase (2008 bis 2012) in einem Praxistest bewährt, kommt jedoch seitdem nicht zum Einsatz. Warum?

Wachsmuth: In dem damaligen CITEC-Projekt TAPeD (Task Assistance for Persons with cognitive Disabilities) ging es um verschiedene Grundlagenfragen, wie ein Assistenzsystem mit Sensorik und Verfahren aus der künstlichen Intelligenz aufgebaut sein muss, welche System-Prompts von der Nutzergruppe verstanden werden, wie sich das System auf das individuelle Timing-Verhalten beim Zähneputzen einstellen kann. Dies wurde in enger Kooperation mit den Pflegekräften und unter Einbeziehung der Bewohner einer betreuten Wohneinrichtung entwickelt und dort getestet. Dabei konnten einige Effekte gemessen werden, dass sich die eigenständige Durchführung des Zähneputzens verbessert. Jedoch handelte es sich um einen Forschungsprototyp, der weit entfernt ist von einem in der Praxis getesteten Produkt. Dies wäre eine Aufgabe für einen Verwertungspartner, der dann auch notwendige Zertifizierungen und Marktanalysen vorantreiben müsste.

Nahezu täglich tauchen Meldungen über neue smarte Erfindungen auf. Längst wurde ein Zahnimplantat komplett robotergesteuert gesetzt. Aktuell führt ein weltweit agierender Anbieter von Mundpflegeprodukten in Deutschland seine erste elektronische Zahnbürste mit künstlicher Intelligenz ein. Glauben Sie, dass diese Entwicklung Bestand hat und die KI-Technologien künftig die Zahnmedizin umkrempeln werden?

Wachsmuth: In der aktuellen Werbelandschaft wird künstliche Intelligenz immer mehr als Marketingbegriff eingesetzt. Wie viel künstliche Intelligenz in Produkten tatsächlich drinsteckt, ist daher wenig transparent.  Wenn das Marketing dann dazu führt, dass wir die Eigenverantwortung für unsere Zahngesundheit an die „intelligenten“ Produkte abgeben, ist uns eigentlich nicht geholfen. Wenn die Technologie allerdings dafür eingesetzt wird, dass wir ein besseres, persönliches Feedback zu dem Zustand unserer Zähne bekommen, ist schon etwas Positives erreicht. Was sich im Bereich Zahnmedizin umkrempeln könnte, ist der Umgang mit Daten. Ein Zahnarzt oder eine Versicherung könnten vermutlich viel mit den Daten des täglichen Zähneputzens anfangen. Ob wir das wollen, steht allerdings auf einem ganz anderen Blatt.