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"Alterszahnmedizin ist nicht unwirtschaftlich"
Dr. Weiss behandelt Patient im Rollstuhl.

Dr. Michael Weiss (rechts) bei der Behandlung eines Pflegebedürftigen.

Dr. Michael Weiss arbeitet als niedergelassener Zahnarzt in Essen. Vor rund zehn Jahren hat er damit begonnen, die Behandlung gehörloser und älterer Patienten mit Pflegebedarf in seinen Praxisalltag zu integrieren. Über die praktischen Aspekte der Versorgung in Pflegeheimen wird er beim Wittener Tag der Zahnmedizin am 22. September 2018 einen Vortrag halten. Im Interview mit DZW-Redakteurin Evelyn Stolberg erklärte er, was seiner Meinung nach passieren muss, damit die Alterszahnmedizin – auch im Kollegenkreis – einen höheren Stellenwert erhält.

Sie fordern, dass die Alterszahnheilkunde ähnlich professionell wie andere Schwerpunkte im Praxisalltag verankert werden sollte. Wie könnte das gelingen?

Dr. Michael Weiss: Wir sollten zunächst einmal alles versuchen, um das „Mantra der Schwierigkeiten“ in der Alterszahnheilkunde aufzugeben. Überall liest man, wir Zahnärzte behandeln die Pflegebedürftigen nur aus Mitmenschlichkeit, in den Heimen würde man nur auf Widerstand stoßen... Mit solchen pessimistischen Berichten verschrecken wir die Kollegen, statt ihnen Wege aufzuzeigen, Alterszahnheilkunde gut und wirtschaftlich in den Praxisalltag zu integrieren. Doch woher kommen die Vorbehalte? Als 2014 die Kooperationsverträge mit großer Resonanz vorgestellt worden sind, wurde den Zahnärzten vermittelt, man müsse nur mit den Einrichtungen Kontakt aufnehmen und der Rest würde von selbst laufen. Doch der Arbeits- und Verwaltungsaufwand für diese vulnerable Patientengruppe ist einfach sehr hoch und muss entsprechend eingeplant werden. Bei unserer Praxis ist es so: An jedem Vormittag besucht ein Team, das aus einem Behandler und zwei Helferinnen besteht, etwa vier Einrichtungen, um dort jeweils vier bis fünf Patienten zu behandeln. Bei den halbjährlichen Vorsorgeuntersuchungen ist unser Ziel, rund 70 Prozent der Bewohner zu untersuchen. Dieses sportliche Ziel können wir leider nur bei einem Teil unserer Kooperationsverträge erreichen. Es sind auch Einrichtungen dabei, in denen nur 10 bis 20 Prozent der Bewohner untersucht werden können. Deshalb ist allein die Zahl der Kooperationsverträge wenig aussagekräftig, wenn nicht auch die Prozentzahl der untersuchten Bewohner genannt wird.

Beim Wittener Tag der Zahnmedizin am 22. September halten Sie einen Vortrag zu praktischen Aspekten bei der Versorgung in Pflegeheimen. Worauf genau werden Sie eingehen?

Weiss: Ich möchte die Kollegen für die Alterszahnheilkunde begeistern und sie ermutigen, sich mit dem Gebiet zu beschäftigen. Deshalb werde ich in meinem Vortrag aufschlüsseln, was zu tun ist, damit die Behandlung der pflegebedürftigen Patienten funktioniert. Die beiden Hauptkritikpunkte „Unwirtschaftlichkeit“ und „Mangelnde Kooperationsbereitschaft in den Heimen“ möchte ich entkräften. Dafür bringe ich Zahlenmaterial der letzten drei bis fünf Jahre meiner Praxis aus Kooperationen mit mehreren Einrichtungen mit. Was ich jetzt schon sagen kann: Wirtschaftlich rechnet sich das Standbein Alterszahnheilkunde ab acht Kooperationen. Grundvoraussetzung ist außerdem, dass man in einer Mehrbehandlerpraxis mit mindestens zwei Zahnärzten arbeitet, damit einer in der Praxis bleiben kann, während der andere mit seinem Team die Altersheime aufsucht. Außerdem, und das ist mit das Wichtigste, müssen wir Zahnärzte lernen, uns in die Position des Geschäftsführers eines Heimes zu versetzen. Er braucht uns Zahnärzte nicht, damit sein „Geschäft“ läuft. Für ihn zählen nur rote und schwarze Zahlen. Deshalb sucht er Partner, die die Wirtschaftlichkeit seiner Einrichtung stärken. Wenn er den Eindruck hat, der Zahnarzt bindet die Zeit der Mitarbeiter ohne erkennbaren Mehrwert, kann die Kooperation nicht funktionieren. Wenn ich ihm aber aufschlüssele, dass pflegebedürftige Bewohner ohne Zahnschmerzen schneller essen, wodurch den Betreuern, die sie füttern, mehr Zeit bleibt oder künftig weniger begleitete Transporte nötig sind, spreche ich seine Sprache – und ebne so den Weg für eine gute Kooperation.

Dr. Michael Weiss mit gepackten Koffern bei der aufsuchenden Betreuung.

Das Material für die zahnärztliche Behandlung in den Seniorenheimen ist übersichtlich in Koffern verpackt.

Am 1. Juli ist Paragraf 22 a in Kraft getreten. Glauben Sie, er wird deutliche Verbesserungen bringen?

Weiss: Ja. Besonders die Akzeptanz der PZR in den Einrichtungen war sehr gering, weil die Patienten sie bislang privat zahlen mussten. Das war für die meisten Bewohner finanziell oft nicht machbar. Eine zufriedenstellende Optimierung der Mundhygiene wird aber letztlich nur durch eine konsequente Einbindung durch das Pflegepersonal und die Angehörigen funktionieren. Mein Fazit lautet deshalb: Die Inhalte von Paragraf 22 a sind sehr zu begrüßen, wie sie in der Praxis umgesetzt werden können, wird sich aber noch zeigen müssen. Denn ein Problem haben wir noch nicht gelöst: Rund drei Millionen Pflegebedürftige stehen zurzeit nur einigen hundert Zahnärzten gegenüber.

Wo liegen die größten Herausforderungen in der Alterszahnmedizin?

Weiss: In der Versorgungsabdeckung. Wir müssten in jeder Region Schwerpunktpraxen für Alterszahnheilkunde anbieten und die Abläufe standardisieren. Wir Zahnärzte sollten uns bemühen, wenn das Risiko nicht zu hoch ist, den Großteil der Arbeit vor Ort, in den Heimen zu machen, um die multimorbiden Patienten nicht unnötig transportieren zu müssen. Eine weitere große Herausforderung ist, die Verbindung zum pflegebedürftigen Patienten zu halten, der entweder in der häuslichen Umgebung durch einen mobilen Pflegedienst oder in einer Einrichtung versorgt wird. Denn es liegt an den Betreuern und Pflegern, uns zu kontaktieren. Die Betreuung in den Einrichtungen ist dabei nur die Spitze des Eisbergs. Die Patienten in der häuslichen Umgebung zu erreichen, ist die größte Herausforderung. Dafür benötigen wir natürlich auch die entsprechende Ausrüstung. Die mobilen Einheiten, die aktuell auf dem Markt sind, sind zu schwer, sie wiegen oft 30 bis 40 Kilo. Wenn es keinen Aufzug gibt, und der Patient wohnt im dritten Stock, kann ich aber schlecht sagten: „Wir behandeln Sie nur im Erdgeschoss“. Es muss möglich sein, mit leichtem Gepäck zu behandeln. Unsere Firmen verschlafen leider die Möglichkeiten. Sie müssten uns mal ein paar Tage im Praxisalltag begleiten. Dann würden sie verstehen, welche Ausrüstung wir brauchen.

Sie bieten in Ihrer Praxis regelmäßig Video-Sprechstunden an. Für welche Patientengruppe ist dieses Angebot gedacht?

Weiss: Die Sprechstunde ist momentan noch ein kleiner Baustein in unserem Patientenservice. So können wir, anstatt nur telefonisch nachzufragen, abends uns noch mal ein Bild vom postoperativen Zustand des Patienten machen und evtl. später aufgekommen Fragen klären. Ich sehe aber großes Potenzial darin, etwa bei der Betreuung von Heimbewohnern. Die Pfleger könnten so direkt in Kontakt mit uns treten und Fragen stellen. Um die hohe Patientenzahl bedienen zu können, kann diese Technik sehr sinnvoll werden.

Dr. Michael Weiss behandelt eine Seniorin.

Im Seniorenheim: Dr. Weiss untersucht eine Bewohnerin. 


Wittener Tag der Zahnmedizin 2018

Am 22. September 2018 beginnt die neue Reihe „Wittener Tag der Zahnmedizin“, den die Universität Witten/Herdecke ins Leben gerufen hat. Das Leitthema ist die Alterszahnmedizin. Die renommierten Experten des Symposiums werden unterschiedliche Aspekte des Leitthemas aufgreifen. Auch der Besuch eines Workshops zum Thema Endodontologie oder zu chirurgischer Nahttechnik ist möglich. Weitere Informationen sowie Möglichkeiten zur Anmeldung gibt es unter www.uni-wh.de/tdzm. Teilnehmer erhalten 9 Fortbildungspunkte. Als Einstimmung bietet die DZW online eine umfangreiche Artikelserie zum Thema Seniorenzahnmedizin: bit.ly/2nodlDU