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„Dr. Bohrmichel“ und die Crux mit dem Kreuz

Ständige Torsionsbewegungen zwischen Patient einerseits und dem Griff zu den Instrumenten andererseits sind Gift für die Halswirbelsäule.

Ständige Torsionsbewegungen zwischen Patient einerseits und dem Griff zu den Instrumenten andererseits sind Gift für die Halswirbelsäule.

Derzeit geht die erste Generation Zahnärzte in den (Vor-)Ruhestand, die ihr gesamtes Berufsleben lang vorwiegend falsch gesessen hat. Ein Umstand, der in wohl rund 60 Prozent der Fälle bedingt durch Rückenschmerzen die Lebensqualität teils signifikant reduziert!

Sicherlich: Prävention, Prophylaxe und Vorsorge für den Patientenmund hat er, zumeist jedenfalls, in den vergangenen Jahren gepredigt. Gepredigt gegenüber seiner Patientenschaft. An die eigene Gesundheitsvorsorge hat unser Beispielzahnarzt Dr. Bohrmichel dabei weniger gedacht. Als es im Bereich der Schulter- und Nackenmuskeln zu zwacken begann, hat er ans Schwimmen gedacht. Auch ans Radfahren. Später den Physiotherapeuten aufgesucht. Zwischendurch kam noch eine Schlafberatung zwecks Anschaffung verbesserter Matratzen hinzu.

Dem Rücken gemäß den Tag planen?

Danach wurde es ernster. An die Mitarbeiterin der Rezeption erging die Anweisung, nicht gleich zwei Endo-Sitzungen oder mehrere größere Präparationen an einem Tag einzuplanen. Dr. Bohrmichel hielt das nicht mehr aus.

Vollends in die Ratlosigkeit geriet Dr. Bohrmichel aber erst, als ihm der Kollege Orthopäde aus der Chirurgie demonstrierte, wie er verbrauchte zahnärztliche Zwischenwirbel etwa im Bereich HWS 5/6 miteinander per operativ einzubringender Platte verblocken könne. Das schränke zwar die Beweglichkeit postoperativ dauerhaft ein, entlaste aber zumeist von Schmerzen; in den meisten Fällen jedenfalls …

Was war passiert? Dr. Bohrmichel kannte offensichtlich die Gesetze der Schwerkraft nicht – und ihre Auswirkungen bei ständigen Torsionsbewegungen zwischen Patient einerseits und dem Griff zu den Instrumenten andererseits. Auch hatte ihm wohl niemand das segensreiche Werk von Dr. Richard Hilger vorgelesen: Richard Hilger (2007): Arbeitssystematik und Infektionsprävention in der Zahnmedizin. Praxisgestaltung, Teamarbeit und Hygiene. Quintessenz Verlags-GmbH.

Im Nackenbereich fängt es an

Sich erinnernd, fällt Dr. Bohrmichel ein, dass alles mit gelegentlichen Beschwerden im Muskelbereich des Nackens – Verspannung genannt – begann. Es folgten erweiternd beim Rechtshänder Dr. Bohrmichel Druckschmerzen im linken Oberarm. Der war ja zumeist nicht abgestützt. Diese Schmerzen waren bereits so einschränkend, dass Schmerzmittel hermussten. Dann kam es dann zu Kribbeln und Taubheit in den Fingerkuppen der linken Hand.

Angesichts nun massiver, die Arbeit limitierender Faktoren erinnerte sich Dr. Bohrmichel an die Anweisung des im Phantomkursus seines Studiums Aufsicht führenden Assistenten – „Sitz gerade!“ – verbunden mit einem Stubser in den Rücken. So oft er es auch versuchte, aufrecht sitzend konnte Dr. Bohrmichel dann aber das Arbeitsfeld nicht mehr einsehen. Aber da war der Assistent schon um die Ecke verschwunden … Und schon damals ging es dann in der verkrümmten Stellung, beispielsweise den 26er distal noch direkt sehend, weiter.

Sicherlich, auch aus einer ungünstigen Arbeitshaltung heraus ist eine präzise Präparation zu schaffen. Freilich mit mehr Ermüdung über den Tag, mit mehr Verschleiß über das Berufsleben hinweg und erkauft gegenüber einem einzuübenden, dezidierten Mundspiegelgebrauch, bei dem dann 45 Prozent der Kronen, die nie direkt einsehbar sind, auch unter Beibehaltung einer gesunden, aufrechten Körperhaltung erfassbar gewesen wären.

Blind aufnehmen, blind ablegen

Immer wenn Dr. Bohrwinkel – nun schmerzgetrieben – die entlastende, aufrechte Körperhaltung mit gespanntem Rücken verwirklichen wollte, scheitere das am Gebrauch der schlauchgebundenen Instrumente. Die Augen am Zahn belassend, blind aufnehmen und blind wieder ablegen ging nicht. Die Arme und Hände dabei abstützend und so aus der gesteigerten Feintaktilität der Finger entlastet zu arbeiten blieb zeitlebens nur ein Wunschziel. Unverwirklicht. Dabei setzen Arbeitskurse in Kleinstgruppen seit Jahren Lösungen erfolgreich um.

Verändertes Sitzgefühl, aber keine Besserung

Nun griff Dr. Bohrmichel zum Äußersten: Ein neuer Arzthocker, ein sogenannter Sattelsitz, wurde angeschafft. So veränderte Dr. Bohrmichel zwar sein Sitzgefühl mit der temporär sehr begrenzten Wirkung der Besserung. Bald jedoch traten die alten Beschwerden wieder auf. Woran lag es? Das höhere Sitzen auf dem Sattelsitz zwingt in eine nochmals stärkere Rundrückenlage, reduziert im Bereich der Adduktoren die Gefäßlumen und bringt den individuellen Beinöffnungswinkel in eine ungünstige Zwangslage: der Rücken sackt durch und wird wieder zum Rundrücken.

Zudem wird nun nochmals mehr Körpergewicht unseres Dr. Bohrmichel auf die Füße verlagert. Mit der Folge, dass der den Anlasser bedienende Fuß nun mehr Muskeln und mehr Konzentration zum Tarieren verlangte. Wurde früher auf den alten Arbeitshockern mit den mehr oder weniger runden Sitztellern (die Rückenlehnen kann in der Arbeit selbst ohnehin kein Behandler nutzten) die Rollbarkeit arg eingeschränkt, weil lediglich die vordere Hälfte der Sitzfläche „besessen“ wurde, so ist auf dem Sattelsitz zwar das Gesäß gut fixiert – allerdings ohne die erhoffte Besserung. Sattelsitze sind entwickelt worden für Reiter und Motorradfahrer. Dort helfen sie, weil sich die Sitzfläche bewegt. In der Zahnarztpraxis helfen sie nicht.

Zum Thema Rückenschmerzen in der Zahnärzteschaft ist ein zweigeteilter Weg auszumachen: Die Herren Dr. Bohrmichel erklären am Stammtisch „Das mit den Rückenschmerzen ist in unserem Beruf so; mein Vater litt auch darunter; da müssen wir durch.“ Die nun vermehrt jungen, in den Beruf eintretenden Kolleginnen erkennen das Thema, müssen aber erfahren, dass sie aufgrund ihrer geringeren Körpermaße sowie der Brustverhältnisse noch mehr Probleme haben, aus verdrehter Haltung beispielsweise den 26er distal noch in direkter Sicht zu erfassen. Sie sind es, die sich präventionsbewusst bereits in jungen Jahren – noch bevor sich die ersten Beschwerden einstellen – der Besserung zuwenden, zum Beispiel über Kurse.

Beiden, Dr. Bohrwinkel wie seiner jungen Kollegin, kann empfohlen werden, sich in ihrer Arbeit am Patienten einmal beobachten oder filmen zu lassen. Auch die erfasste Wochenarbeitszeit, getrennt nach Behandlungsarten wie zum Beispiel Endo, Präp, KONS, bringt Erhellung.

Nicht zum Sitzen geschaffen

Erläuterung: In der Evolution sind wir zum Gehen und Laufen gemacht. Als die ehemals schnellsten Lebewesen auf Erden haben wir uns behauptet. Liegen können wir auch. Sitzen, zumal in der Zahnmedizin in starrer Haltung, widerspricht unserem Körperaufbau. Mit zunehmendem Lebensalter nimmt die Fähigkeit der Zwischenwirbel, in der Ruhe- oder Liegephase den Flüssigkeitsanteil in den Zwischenwirbeln gleichsam wieder aufzupumpen, deutlich ab.

Wird nun bei zahnärztlicher Arbeit besonders der Zwischenwirbelbereich im HWS-Bereich 5/6 bei zudem schräggestelltem Rundrücken mit rechtsseitiger Kopfneigung und zusätzlich der Torsionsbewegung: Augen weg vom Zahn – hin zum Instrument –wieder hin zum Zahn – Instrument zurück in die Ablage etc. – hundertfach in einer Sitzung , tausendfach am Arbeitstag und millionenfach im Arbeitsleben der Behandler ausgeführt, entwickeln sich die im Halswirbelbereich befindlichen Zwischenwirbel in der Horizontalen in Richtung Dreieckskeil.

Der flachere Teil des Keils trägt nun besonders in der Torsionsbewegung ein Vielfaches der Schädellast. Dies mit der Folge, dass Zwischenwirbel beim Rechtshänder nach links verrutschen und im Spinalkanal eine Vorwölbung verursachen, in schlimmeren Fällen eine Einengung bedingen. Die Folge sind Schmerzen, die beim Rechtshänder im linken Oberarm (Druckschmerzen) und in der linken Hand (Taubheit der Fingerkuppen) auftreten. Eine Beobachtung ist, dass die behandelnden Physiotherapeuten und Orthopäden fleißig am Symptom arbeiten, nicht aber die „heilbare“ Situation der Entstehungsquelle im zahnärztlichen Behandlungsraum kennen.

Ein winziges Arbeitsfeld

Erkennen wir das Zahnärztliche Arbeitsfeld als einen Würfel mit acht Zentimetern Kantenlänge, durch die Mundöffnung zusätzlich verengt, muss das Arbeitsumfeld unter Einbeziehung der Bedingungen der Propriozeption und der Schwerkraft gestaltet sein. In dieser Reihenfolge können Vorbereitungen zur Besserung der Arbeitsplatzgestaltung angegangen werden:

  • Arbeitskurse, in denen die die Schmerzen verursachenden Altgewohnheiten herausgearbeitet und unter Einbeziehung individueller Besonderheiten zur Besserung gebracht werden können. Eine Investition in die Gesundheit für ein Arbeitsleben und eine sinnvolle Maßnahme, um anschließend die begünstigende Einrichtung auszuwählen:
  • Patientenliege,
  • Kopfauflage,
  • Arbeitssessel,
  • Sicht (direkt versus indirekt; Hilfsmittel: Lupenbrille, Mikroskop, OP- und Umfeldbeleuchtung),
  • Instrumentenablage, schlauchgebunden,
  • Handinstrumentenablage,
  • Möbel (kleiner und großer Greifraum; Interaktion mit der Assistenz),
  • Fußbodenqualität,
  • Berücksichtigung limitierender baulicher Faktoren im Behandlungsraum,
  • Raumklima

Waren Hersteller zahnärztlicher Behandlungsplätze mit den dazugehörigen Möbeln im Verbund mit frühen, sich um die zahnärztliche Arbeitswissenschaft verdient gemachter Ergonomen am Start, so ist das Wissen um die Ganzheitlichkeit des zahnärztlichen Behandlungsraums, gar des gesamten Praxisgrundrisses, heute beklagenswert zurückgefallen. Zu Erinnern ist hier an die Basiskonzepte 1 bis 4 und die gleichsam im Wettstreit um Verbesserungen tätigen (Auswahl):

  • Basiskonzept 1 (Arztinstrumente rechts): Prof. Dr. Schön; später Dr. Richard Hilger,
  • Basiskonzept 2 (Arztinstrumente Hinter-Kopf): Dr. Karlheinz Kimmel,
  • Basiskonzept 3 (Arztinstrumente als Schwinge über dem Patienten): Dr. Bleicher,
  • Basiskonzept 4 (Arztinstrumente in die Rückenauflage der Patientenliege integriert – auch 12-Uhr-Einheit genannt): Dr. Daryl Beach (und hierzulande Dr. Wolf Neddermeyer)

Wussten in jenen Jahren einkaufende Zahnärzte um die unterschiedlichen, in eine ISO-Norm gebetteten Basiskonzepte und ihre Varianten, so regieren heutzutage allzu oft flüchtige Modernitäten und weniger unter Neuheit als vielmehr unter Neuigkeit abzutuende Leichtargumente wie Farben, Aktionspreise, allerlei elektronische (kaum zu reparierende) Anscheinsverbesserungen das Feld. Aber Achtung: Gern zu billig einkaufende Zahnärzte formen auch hier das Angebot der Hersteller wie auch die Leistungsqualität des dazugehörigen Fachhandels.

Ergonomie auf den Lehrplan!

Was darf dem Dr. Bohrmichel in seiner Tätigkeit insgesamt gewünscht werden? Zunächst einmal eine umfassende Aufnahme der zahnärztlichen Arbeitswissenschaft in sein Studium der Zahnmedizin. Fakultative Kurzvorlesungen mittels Dias aus den 70er Jahren helfen nicht. Vielmehr gehört die Ergonomie und das Nutzen des Wissens der Bedeutung der Propriozeption sowie der Schwerkraft in den Basislehrplan. Beginnend mit den Kursen der Propädeutik. Der Arbeit der AGAZ als Teilgesellschaft der DGZMK ist hier Erfolg zu wünschen.

Als unter anderem in der Wertermittlung zahnärztlicher Praxen (Praxisabgaben- und -übernahmen) Tätiger sind dem Verfasser die nachteiligen Folgen eines unter Umständen vorzeitigen Berufslebensendes stets vor Augen: Unzufriedenheit, Schmerzen, reduzierte Lebensqualität, wirtschaftliche Einbußen etc.

Merke: Selbstständige zahnärztliche Tätigkeit begrenzt die Effizienz des Praxisbetriebs auf die Schaffenskraft des Inhabers. Daran ändern auch allerlei Sozietätskonstruktionen nichts. Anders herum: Zahnärztliche Selbstständigkeit ist eine auf Gewinn gerichtete Tätigkeit. Und diese verlangt allemal einen weitgehend gesunden Inhaber als Basismotor.

Dr. Bohrwinkel jedenfalls hat sein Verbesserungspotenzial gegen Rückenschmerzen genutzt, indem er einen zahnärztlichen Arbeitskursus besucht hat und sich danach über Verbesserungen an seinem Arbeitsplatz in seiner Praxis individuell hat beraten lassen. Er geht nach Wochen intensiver Umstellungsgewöhnung nun am Abend wieder beschwerdefrei in die Familie und am Morgen zuversichtlich in seine Praxis.

Auf einem Kursus begegnete ihm übrigens eine 32 Jahre junge Kollegin, schlank und sportlich aussehend. Sie war Teilnehmerin, weil sie seit drei Jahren unter über den Arbeitstag hinweg zunehmenden Rückenschmerzen litt. Nur die Erfahrung, dass diese Schmerzen in der regenerativen Liege-Ruhephase bis zum Morgen zurückgingen, ließ sie den Behandlungstag überstehen. Die Angst davor, dass diese Regeneration über Nacht irgendwann wohl nicht mehr funktionieren würde, hat sie zur Kursteilnahme bewogen. Und das mit Erfolg. Der Referent erhielt von ihr eine Postkarte aus dem Urlaub, Text: „Mein neues Arbeitsleben hat begonnen. Schmerzfrei. Danke!“