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Rituale geben kleinen Patienten Sicherheit

Die Behandlung von Kindern in der Zahnarztpraxis bedeutet oft Unruhe und kann die Nerven aller Beteiligten strapazieren. Barbara Beckers-Lingener hat das Konzept der Ritualisierten Verhaltensführung entwickelt, um diesen Situationen zu begegnen. Dazu integriert sie feste Strukturen, Elemente aus dem Behaviour Management sowie aus der verbalen und nonverbalen hypnotischen Kommunikation.

Lina, Philipp und ihre Eltern betreten die Familienzahnarztpraxis im Zedernweg in Sankt Augustin. „Hallo Lina, schön, dass du da bist. Hast du deine Versichertenkarte dabei?“, wird die Zweijährige als erstes begrüßt. Lina klettert auf die schon bereitstehende kleine Treppe und reicht der ZFA ihre Versichertenkarte. Danach ist ihr Zwillingsbruder Philipp an der Reihe, bevor die ganze Familie sich noch kurz ins Wartezimmer setzt.

Die begleitenden Eltern spielen bei der Begrüßung in der Zahnarztpraxis erst einmal keine Rolle. Bewusst nicht. Diese besondere Form der Kontaktaufnahme ist Baustein eines Konzepts für die Kinderbehandlung, das Barbara Beckers-Lingener entwickelt hat und auf Kongressen und Fortbildungen unterrichtet: die „Ritualisierte Verhaltensführung“. 

Die Behandlung von Kindern in der Zahnarztpraxis bedeutet oft Unruhe und kann die Nerven aller Beteiligten strapazieren. „Viele Kollegen fühlen sich nach einem Nachmittag mit Kinderbehandlungen ausgelaugt und erschöpft, weil es viel Empathie und Aufmerksamkeit braucht, Kinder und Eltern durch die Situation zu führen“, erläutert Beckers-Lingener.

Klar strukturiertes Konzept

Dieser mitunter unberechenbaren Situation begegnet Beckers-Lingener mit ihrem klar strukturierten Konzept, auch geeignet für kleine Patienten mit Zahnarztangst, das sie erst intuitiv entwickelt und dann Stück für Stück systematisch ausgebaut hat. Dabei integriert die 47-jährige Zahnärztin mit Tätigkeitsschwerpunkt Kinderzahnheilkunde (DGKiZ) und Supervisorin der Deutschen Gesellschaft für zahnärztliche Hypnose (DGZH) feste Strukturen, Elemente aus dem Behaviour Management sowie aus der verbalen und nonverbalen hypnotischen Kommunikation.

Das Konzept der „Ritualisierten Verhaltensführung nach Barbara Beckers-Lingener“ (RVF) sieht vor, dass die kleinen Patienten in der Praxis feste Stationen durchlaufen, die jeweils mit wiederkehrenden und wiedererkennbaren Strukturen (Ritualen) verbunden sind: Rezeption – Wartezimmer – Behandlungszimmer –– Rezeption. Die für die einzelnen Stationen definierten Rituale beginnen und enden mit klar erkennbaren Sätzen oder Gesten, den sogenannten „Markern“, die das ganze Praxisteam an der jeweiligen Station einheitlich verwendet.

"Musterunterbrechungen"

Wichtig dabei: immer wieder den persönlichen Kontakt zum Kind herstellen, eine stabile Kommunikationsbasis finden und halten. Lässt das Kind sich auf die verschiedenen Rituale ein, gibt es so im Grunde immer wieder seine Einwilligung in die Behandlung. „Jeder gelungene Kontakt macht die spätere Behandlung möglich“, erklärt Beckers-Lingener. Dabei arbeiten sie und ihr Team bewusst mit „Musterunterbrechungen“, die Dinge werden anders gehandhabt als beim Zahnarzt eigentlich erwartet. Beim Erstbesuch sind die Kinder überrascht, verblüfft und reagieren auf das ungewöhnliche Setting mit Neugier – bewusst oder unbewusst geplanten Behandlungsverweigerungen wird so Boden entzogen (später haben die schon bekannten Rituale und Marker haben einen Wiedererkennungseffekt und schaffen für das Kind eine verlässliche Situation).

So wie bei Linas Begrüßung in der Eingangssituation. Üblicherweise verschwinden kleine Kinder hinter einer hohen Theke, und die Eltern sind gefragt. Hier nicht. Lina agiert eigenständig, der erste Kontakt ist hergestellt.

"Komm, wir gehen nach Afrika"

Ebenso verläuft die erste Begegnung im Wartezimmer mit klaren Ritualen. Die ZFA begrüßt wieder zuerst das Kind – wichtig dabei: Sie sollte Augenkontakt halten und Raum geben, um zu signalisieren, dass sie keine Bedrohung ist. Sie steht also nicht im Türrahmen und hält so quasi den „Fluchtweg“ frei. Beckers-Lingener erklärt warum: „Da läuft ganz viel auf der Instinktebene. Die Patienten fühlen sich beim Zahnarzt teilweise ausgeliefert, je jünger die Kinder sind, je unmittelbarer erleben sie das.“ Dann folgt die Aufforderung (Marker): „Darf ich dir mein Zimmer zeigen? Komm, wir gehen nach Afrika“. Im Folgetermin heißt es dann nur noch: „Komm, wir gehen nach Afrika“. Das klingt für Kinder viel spannender als das Wort „Behandlungszimmer“, das ganz bewusst vermieden wird. „Die Einladung sollte sich dabei immer auf irgendetwas Markantes im Zimmer beziehen“, erläutert Beckers-Lingener. Ein kindgerechtes Ambiente sei hilfreich, aber nicht zwingend notwendig.

Afrika – das ist in dieser Praxis das mit Zebras, Antilopen, Raubkatzen und einem Strauß ausgemalte Behandlungszimmer. Und dort „läuft“ die Zeit: Die Minuten, in denen sich Kinder konzentrieren können und eine Behandlung zulassen, kann mit einer Faustregel errechnet werden: das Alter multipliziert mit 3. Mithilfe des Konzepts lässt sich diese Spanne effektiver nutzen und auch verlängern.

Vor der Kernbehandlung schlüpfen Kind und Beckers-Lingener in Rollen. „Willst du der Pilot sein?“ (Marker) – und dann kann Lina wieder selbst aktiv werden, sie schaltet die Behandlungsleuchte an und fährt den Stuhl herunter. Beckers-Lingener zieht sich Handschuhe, Brille und Mundschutz über und übernimmt in diesem Moment für das Kind sichtbar die Rolle der Zahnärztin. Um die Behandlung zu unterstützen, wendet sie je nach Situation neben Elementen des klassischen Behaviour Management wie Tell-Show-Do auch Techniken der verbalen und non-verbalen Kinderhypnose an. Der Papa hält beispielsweise die Schläfen seiner Tochter ­– ein Trancegriff. Und die komplett entspannte Trance-Hand des Kindes zeigt der sensiblen Beobachterin an, ob die kleine Patientin noch bei der Sache ist und wie es ihr geht.

Auch das Ende jeder Station wird mit einem klaren Marker gekennzeichnet. Lina und Philipp beispielsweise dürfen sich am Ende der Behandlung ein Tattoo aussuchen … „Dafür sollte man sich Zeit nehmen, durch das Aussuchen und Aufkleben entsteht eine erfreuliche und wertschätzende Kommunikation. Und bekanntlich zählt der letzte Eindruck.“

Katrin Ahmerkamp


Ein Ritual besteht aus vier Strukturelementen (nach Michaels A. Die neue Kraft der Rituale, Heidelberg, 2008):

  1. Verkörperung – eine handelnde Person hebt sich in Kleidung/Auftreten vom Alltagsgeschehen ab und wirkt zielgerichtet auf die Umgebung ein.
  2. Förmlichkeit – die Handlungen bestehen aus standardisierten, sich wiederholenden Elementen, die einen eindeutigen Beginn und Abschluss haben. Sie schaffen eine Abgrenzung zwischen Alltagswelt und Zahnarztbesuch.
  3. Modalität – die Begegnung im Behandlungszimmer wird vom ZA als besonderes Ereignis gestaltet.
  4. Transformation – eingebunden in das Unerwartete (beim Erstbesuch) oder das Erwartete (Wiederholungstermin), begibt sich der Patient in eine andere Welt, aus der er nach Möglichkeit klüger und gesünder hinausgeht. Die hypnotische Kommunikation wird zum Schaffen einer wechselseitigen vertrauensvollen Atmosphäre genutzt (Rapport).