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„Überversorgung schadet den Patienten“

Nach neuen Untersuchungen der Bertelsmann-Stiftung sind vielfältige Ursachen für Überversorgung verantwortlich.

Nach neuen Untersuchungen der Bertelsmann-Stiftung sind vielfältige Ursachen für Überversorgung verantwortlich.

In Deutschland wird unnötig diagnostiziert und operiert. Überflüssige medizinische Leistungen gehen mit Belastungen und Gefahren für Patienten einher. Sie verschwenden wertvolle Ressourcen im Gesundheitssystem, die für tatsächlich notwendige Behandlungen fehlen. Nach neuen Untersuchungen der Bertelsmann-Stiftung sind vielfältige Ursachen für Überversorgung verantwortlich.

Überflüssige und in ihrem Nutzen fragwürdige Untersuchungen, Operationen, Therapien und Arzneimittelverschreibungen schaden den Patienten. Sie können zu Verunsicherung, Komplikationen und Folgeeingriffen führen. Zudem binden sie medizinisches Personal und Ressourcen, die für andere Behandlungen dringender benötigt werden. In einem kombinierten Studienansatz hat die Bertelsmann-Stiftung die Auswirkungen und Ursachen von medizinischer Überversorgung in Deutschland analysiert: Neben Planungs-, Vergütungs-und Steuerungsdefiziten im Gesundheitssystem, die als Treiber des Problems gelten, spielen die Erwartungen und Einstellungen sowohl von Ärzten als auch Patienten eine große Rolle.

Unnötige medizinische Leistungen in Deutschland

Das Berliner IGES-Institut hat in der Fachliteratur medizinische Leistungen identifiziert, die exemplarisch für das breite Spektrum unnötiger Diagnostik und Therapie stehen. So kommt es jährlich zu rund 70.000 Schilddrüsenoperationen, wobei bei etwa 90 Prozent der Eingriffe keine bösartigen Veränderungen vorliegen. Mit einer besseren Diagnostik könnten viele dieser Operationen vermieden werden. Auch bei Eierstock-OPs bestätigt sich der Verdacht auf eine bösartige Erkrankung nur bei zehn Prozent der operierten Frauen. Zu unnötigen OPs kommt es, weil vielen Frauen ohne Risiko ein Screening empfohlen wird, obwohl dies gegen Leitlinien verstößt. Bei Medikamenten werden insbesondere Magensäureblocker, die zu den am häufigsten eingenommenen Arzneimitteln in Deutschland zählen, zu oft verschrieben. Experten zufolge werden hier bis zu 70 Prozent aller Verordnungen ohne korrekte Indikation vorgenommen. Das heißt, sie sind medizinisch nicht zwingend notwendig.

Ärzte gehen selbst gegen Überversorgung vor

„Um Patienten besser vor Überversorgung zu schützen, ist ‚Choosing Wisely‘ ein vielversprechender Ansatz. Denn hier setzen sich Ärzte gegen Überversorgung und für bessere Gespräche ein. Das Konzept ist in anderen Ländern bereits erfolgreich eingeführt worden und findet immer mehr Beachtung. Auch in Deutschland sollte es im Sinne des Patientenwohls stärker unterstützt werden“, so Brigitte Mohn, Vorstand der Bertelsmann-Stiftung. Choosing Wisely ist eine in den USA und Kanada gestartete Bewegung von Ärzten für mehr professionelle Verantwortung und gegen Überversorgung. Bei Choosing Wisely – in der deutschen Fachöffentlichkeit mit „gemeinsam klug entscheiden“ übersetzt – benennen medizinische Fachgesellschaften medizinische Leistungen, die überdacht oder ganz unterlassen werden sollten, um Patienten nicht zu schaden. Die mittlerweile in über 20 Ländern erfolgreiche Bewegung hinterfragt herrschende Denk-und Verhaltensmuster in der Gesundheitsversorgung, beispielsweise ein „Mehr ist besser“. In Kanada, Neuseeland oder den Niederlanden gibt es konkrete Maßnahmen, damit fragwürdige Leistungen aus dem Klinik-und Praxisalltag verschwinden. „Wir gehen davon aus, dass bis zu 30 Prozent der medizinischen Leistungen in westlichen Industrieländern auf Überversorgung entfallen“, so Prof. Dr. Wendy Levinson aus Kanada, Gründerin und Leiterin von Choosing Wisely International.

Denkmuster befördern Überversorgung

Auch in Deutschland gibt es Denk- und Verhaltensmuster von Patienten und Ärzten, die Überversorgung befördern. Auffällig ist, dass hierzulande viele Menschen zwar ein Bewusstsein für Überversorgung haben, sich selbst aber nicht davon betroffen fühlen. Rund die Hälfte der Bevölkerung vermutet, dass in Kliniken und Arztpraxen oft unnötige medizinische Leistungen erbracht werden. Dies förderte eine repräsentative Umfrage der Meinungsforscher von Kantar zutage. Vom Rheingold-Institut geführte Tiefeninterviews zeigten jedoch: Manchen Patienten ist gar nicht bewusst, dass sie selbst unnötige Behandlungen einfordern und sich dadurch Risiken aussetzen. Die verbreitete Einstellung, im Zweifel lieber nichts unentdeckt und unversucht zu lassen, führe zu Aktionismus. In den Interviews sagten Ärzte und Patienten übereinstimmend, dass Ungewissheit schwer auszuhalten sei und sie daher aktives Handeln bevorzugten. Dies spiegelt sich in den repräsentativen Befragungsergebnissen wider: 56 Prozent der Bürger meinen demnach, jede Therapie sei besser als Abwarten.

Vielzahl an Einflussfaktoren erfordert Maßnahmenbündel

Zu den entscheidenden Treibern von Überversorgung zählen die Rahmenbedingungen der Gesundheitsversorgung: das Nebeneinander von ambulanten und zu vielen stationären Versorgungsstrukturen, aber auch die Art, wie Medizin in Deutschland gelehrt, geleistet und vergütet wird. So wird selbst falsches Handeln vergütet, nicht aber korrektes Unterlassen. Wie bisherige wissenschaftliche Erkenntnisse und die neuen Untersuchungen der Bertelsmann-Stiftung zeigen, ist Überversorgung die Folge vieler Ursachen. Gefragt ist daher ein breites Spektrum an Lösungsansätzen, damit Patienten keine Untersuchungen und Behandlungen mehr erhalten, die ihnen wenig nutzen oder sogar schaden. Nach Einschätzung der Bertelsmann-Stiftung sind daher folgende Maßnahmen zu empfehlen:

  • Ethische Verantwortung übernehmen: Ärzte stehen in der Verantwortung, mit ihren Patienten Nutzen und Risiken relevanter Behandlungsoptionen zu besprechen. So wird Patienten stärker bewusst, dass überlegtes Abwarten und Beobachten auch in ihrem Fall viele unnötige und eventuell schädigende Maßnahmen verhindern kann.
  • Unnötige Leistungen unterlassen: Praxen und Kliniken sollten Strategien entwickeln, um wenig erfolgversprechende Maßnahmen nicht mehr durchzuführen. Choosing Wisely kann dabei unterstützen. Interessenkonflikte müssen transparent dargelegt werden.
  • Nutzen und Risiken medizinischer Leistungen stärker verdeutlichen: Politik und Selbstverwaltung sollten einen leichten Zugang zu evidenzbasierten Informationen und Entscheidungshilfen für Patienten und Ärzte schaffen, beispielsweise in der Elektronischen Patientenakte.
  • Planung und Vergütung optimieren: Politik und Selbstverwaltung sollten die Gesundheitsversorgung bedarfsorientiert und sektorenübergreifend planen und organisieren. Zudem sollten sie die Vergütung stärker an der (Indikations-)Qualität ausrichten und bessere Voraussetzungen für gute Patienteninformation und Informationsflüsse schaffen.