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DGI und EAO (2): Sind Patienten digitalisierbar?

Gemeinsame Jahrestagung von DGI und EAO

Ein zentrales Thema des größten implantologischen Kongresses in Deutschland in diesem Jahr war die Digitalisierung. Von der 3-D-geplanten Implantation und Restauration spannte sich auf der gemeinsamen Jahrestagung von DGI und EAO in Berlin der Bogen zur KI-gestützten Auswertung von Patientendaten – für die Forschung, aber auch für Kostenerstatter bis hin zu globalen Tech-Unternehmen wie Amazon und Apple.

Kurz und klar

  • Intraoralescanner (IOS) vereinfachen Arbeitsabläufe, sind aber beim Scannen über den Frontzahnbereich ungenau (Ganzkiefer-Scans).
  • IOS-Software kann Implantat- und Einschubachsen nicht synchronisieren.
  • Dynamische Navigation ist ebenso genau wie statische und bietet die Möglichkeit ­intraoperativer Anpassung der Implantatachse.
  • Systeme mit 3-D-Brille funktionieren wahlweise ohne Blick auf einen Monitor.
  • KI-Systeme verbessern die radiologische 2-D-, aber (noch) nicht die 3-D-Diagnostik.
  • Datengestützte ästhetische Analyse-Software berücksichtigt nicht individuelle ­Besonderheiten, zum Beispiel im Bereich Phonetik („orale Persönlichkeit“).
  • „Präzisionsmedizin“ wird von Tech-Unternehmen positioniert, um bisherige ­Versorgungsformen zu ersetzen.
  • Diagnostik von Mukositis und Periimplantitis wurde neu definiert, die praktische Umsetzung wird zurzeit erprobt.
  • Ätiologisch wird ein Ungleichgewicht zwischen Mikrobiom und immunologischer Antwort vermutet, Fremdkörperreaktionen auf das Implantatmaterial gelten als nicht belegt.

KI-Systeme in der ästhetischen Analyse

In der bildgestützten Diagnostik haben KI-Systeme ihren Nutzen bereits bewiesen, zum Beispiel um den Verlauf des Mandibularkanals oder Implantat-Typen zu erkennen [1]. Auch in der ästhetischen Analyse könnten sich datengestützte Methoden bald etablieren. Laut Informationen aus einem Industrieforum können diese zum Beispiel männliche und weibliche Zahnformen identifizieren. Fraglich erscheint jedoch, ob sie in der Lage sein werden, zum Beispiel bei Ganzkiefer-Versorgungen die ganz individuelle funktionelle und ästhetische „orale Persönlichkeit“ von Patienten wieder herzustellen – einschließlich hoch relevanter phonetischer Besonderheiten (vgl. „Patientenkommunikation 3.0“, dzw 41/2023, Seiten 8/9; Abschnitt Rudolf Fürhauser, Teil 1 dieses Berichts).

3-D-Datensätze weisen hohe Fehlerquote auf

KI-basierte automatisierte Planungen bieten auch 3-D-Programme für implantologische, orthodontische und restaurative Oralmedizin. Prof. Dr. Falk Schwendicke (Berlin) betonte jedoch, dass Vorschläge aus 3-D-Datensätzen im Gegensatz zu 2-D hohe Fehlerraten aufweisen [2]. Hinzu komme, dass seltene Erkrankungen wegen fehlender Daten gar nicht erfasst werden können. Weiterhin führten regionale Besonderheiten – zum Beispiel praktisch komplett fehlende Wurzelkanalfüllungen in Indien – aufgrund der „Unwissenheit“ der KI zu fehlerhaften Schlussfolgerungen bei der Bildauswertung.

Schwendicke warnte schließlich davor, dass große Internet-Unternehmen aufgrund von Datenauswertungen bald eine allumfassende „Präzisionsmedizin“ anbieten könnten, die bisher dominierende autonome Arzt-Patienten-Beziehung untergraben [3]. Andererseits ist es laut Prof. Dr. Arjan Vissink (Groningen) aus Sicht der Forschung durchaus wünschenswert, standardisierte anamnestische und therapeutische Daten zu erheben. Dadurch ließen sich zum Beispiel leichter Indikationen und Kontraindikationen ableiten. Auch hier sei aber zu bedenken, dass zum Beispiel Versicherungen aufgrund einer solchen Datenbasis Kostenübernahmen einfacher verweigern könnten.

Dynamische ­Navigation könnte neuer Standard werden

Eine 3-D-basierte Diagnostik und Planung ist heute bei komplexen oder ästhetisch sensiblen Implantatversorgungen als prothetisch orientierter Standard anzusehen [4, 5]. Wie sich menschliche Fehler bei Aufbereitung des Implantatbetts und Implantation minimieren lassen, sahen Referenten in Berlin unterschiedlich. Viele beklagen bei konventionellen „statischen“ Bohrschablonen technische Ungenauigkeiten und fehlende Übersicht und verzichten daher auf voll geführte Implantationen [6]. Eine Lösung können hier skelettierte Schablonen mit Führungsstiften am chirurgischen Winkelstück sein (2INGIS).

Totale Patientenerfassung, ­dynamische ­Navigation und Periimplantitis

Für implantatgetragene Restaurationen innerhalb eines Quadranten arbeitet der Berliner Zahnarzt und Privatdozent an der Charité Dr. Guido Sterzenbach immer mit demselben, sorgfältig mit dem intraoralen Scanner (IOS) erzeugten Datensatz. Auch die Kieferrelation muss nur einmal gescannt werden, Geräte mit großem Aufnahmekopf bieten inzwischen eine sehr gute Richtigkeit und Präzision [7]. Trotz der „Beteuerungen der Industrie“ gelte das jedoch nicht bei Ganzkiefer-Scans. Grund sei, dass die Flächen des Inzisalbereichs beim Übergang in den kontralateralen Quadranten abhängig vom Neigungswinkel der Frontzähne meist zu klein sind und daher nicht exakt registriert werden können [8]. Ein Ausweg wird über eine Verblockung mit „Scanhilfen“ gesucht [9].

Erhebliche Probleme gibt es laut Sterzenbach auch aufgrund der in der Software nicht synchronisierten Achsen von Implantat und Restauration (Einschub). Nach Auskunft von Prof. Dr. Samir Abou-Ayash (Universität Bern) sind auf der Basis von IOS-Datensätzen gedruckte Modelle wegen der dafür verwendeten Implantat-Analoga noch ungenau und daher nicht zu empfehlen. Dagegen seien gedruckte temporäre Versorgungen inzwischen so präzise wie gefräste [10], Drucker mit geschlossenen Systemen arbeiteten ohne den störenden Geruch der erforderlichen chemischen Substanzen und könnten daher sehr gut chairside eingesetzt werden (zum Beispiel DWS, Dentsply Sirona). An der Berner Zahnklinik gilt monolithisches Zirkonoxid für definitive Restaurationen häufig auch ästhetisch als geeignet.

3-D-Brille statt Bildschirm

Eine Wiedergeburt scheinen zudem weiter entwickelte dynamisch-navigierte Systeme zu erleben. Diese erlauben eine intraoperative Anpassung der Position und nach Darstellung von Referenten in Berlin eine Achsenabweichung von unter einem Grad. Zugleich ist eine bessere Zugänglichkeit für Bohrer (geringere Bauhöhe), Übersicht und Kühlung gegeben. Ein System ist auch mit einer 3-D-Brille kombinierbar, sodass der Blick auf einen Bildschirm entfallen kann (Mininavident, Straumann). Der Oralchirurg Dr. Kay Vietor (Langen) demonstrierte in einem DGI-Vortrag, wie sich die erreichte Implantatposition über einen intraoralen Scan prüfen lässt. Dieses „Rück-Matchen“ sei einfacher und genauer als ein erneutes DVT-Bild, was auch strahlenhygienisch von großem Interesse sein dürfte.

Neue Leitlinie ­3-D-Diagnostik

Die bereits im Jahr 2021 konsentierte Leitlinie zur dreidimensionalen Diagnostik in der oralen Implantologie wurde im September dieses Jahres von der DGI in einer Medienkonferenz vorgestellt. Darin wird unter anderem eine Ungenauigkeit von DVT-Aufnahmen von zum Teil über einem Millimeter festgestellt (Ausreißer liegen deutlich höher).

zwei Männer sitzen an einem Tisch, einer hat eine VR-Brille auf

Dr. Kay Vietor erklärt in der Industrie-Ausstellung die Besonderheiten eines dynamischen Navigationssystems mit optionaler 3-D-Brille.

„Safteln“ bei periimplantärer ­Entzündung

Das therapiebezogene Spannungsfeld zwischen den beiden in diesem Jahr präsentierten S3-Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Implantologie (DGI) und der European Federation of Periodontology (EFP) zur Therapie von periimplantärer Entzündung (Mukositis) und nachfolgendem Knochenabbau (Periimplantitis) erläuterte der in Graz niedergelassene und lehrende DDr. Michael Payer [11, 12]. Wie bei weiteren „Behandlungsempfehlungen“ orientiert sich die Österreichische Gesellschaft für Implantologie dabei vorwiegend an der aus ihrer Sicht praxisnäheren DGI-Leitlinie.

Zu Diskussionen führte die Frage, ob die von der EFP definierten diagnostischen Endpunkte für periimplantäre Gesundheit – zum Beispiel maximal ein Blutungspunkt beim Sondieren – praxisrelevant sind. Die These, dass eine Abwesenheit von Exsudat oder Suppuration (im österreichischen Volksmund „Safteln“) ausreichen könnte, traf auf Bedenken von Prof. Dr. Dr. Knut Grötz. Bei Risikopatienten sei eine chronische Entzündung allgemeingesundheitlich bedenklich. Konsens ist, dass eine systemische Antibiose gegen Periimplantitis keinen Nutzen hat, mit Ausnahme von Abszessbehandlungen.

Neue Leitlinie periimplantäre Weichgewebs-Augmentation

Die Anfang Oktober von der DGI präsentierte Leitlinie zum periimplantären Weichgewebs-Management enthält zwei zentrale Empfehlungen (voller Wortlaut):

  1. Die periimplantäre Weichgewebsaugmentation mit autologem Bindegewebe […] sollte bei objektivierbaren Weichgewebsdefiziten oder auf Patientenwunsch zur Verbesserung des ästhetischen Erscheinungsbilds angeboten werden.
  2. Die Augmentation (gemeint ist die koronal-apikale Verbreiterung, Anmerkung der Redaktion) von periimplantärer keratinisierter Mukosa mittels autologem Schleimhauttransplantat […] sollte aufgrund der besseren Hygienefähigkeit […] therapeutisch angeboten werden.

Beide Empfehlungen haben einen moderaten Evidenzgrad, jeweils bei starkem Konsens sowohl der beauftragten Arbeitsgruppen als auch des Leitlinien-Plenums.

drei Männer sitzen auf Stühlen vor Tischchen mit Getränken

Periimplantitis scheint im Zusammenspiel zwischen Dysbiose und Immunantwort zu entstehen. Diskussionsrunde mit (v.l.) Tobias Fretwurst (Deutschland), Daniel Jönsson (Schweden) und Asaf Wilensky (Israel).

Öl ins Feuer

Den Wissensstand zur Ätiologie periimplantärer Entzündung fasste der MKG- und Oralchirurg und Gesundheitsökonom Prof. Dr. Dr. Eik Schiegnitz (Mainz und Berlin) griffig zusammen: Das Gleichgewicht zwischen immunologischer Wirtsantwort und Mikrobiom (Biofilm) verschiebt sich in pathologischer Weise. Beim Übergang von Symbiose zu Dysbiose verändern sich Menge und Zusammensetzung des Mikrobioms und ebenso die Immunantwort, auch die Genetik dürfte hier eine wichtige Rolle spielen. In einer thematischen Sitzung der EAO präsentierte Prof. Dr. Tobias Fretwurst (Freiburg und Boston) Ergebnisse einer Pilotstudie, die für Patienten mit Periimplantitis charakteristische immunologische Profile zeigt [13]. Die mit modernen Sequenzierungsverfahren ermittelten Daten könnten zur Entwicklung praxistauglicher diagnostischer Methoden führen.

In der Diskussion betonte Prof. Dr. Daniel Jönsson (Universität Malmö), dass trotz immunologischer Unterschiede zwischen parodontaler und periimplantärer Entzündung keine Beweise für eine Fremdkörperreaktion gegen Implantate vorliegen. Professor Fretwurst zeigte in diesem Zusammenhang, dass sich immunologische Reaktionen gegen Titan- und Zirkonoxidkeramik-Partikel grundsätzlich nicht unterscheiden [14]. Oralen Biofilm in entzündeten Bereichen oder den Einsatz von Probiotika bezeichnete Jönsson potenziell als „Öl, das ins Feuer gegossen wird“. Eine dysbiotische Veränderung im Biofilm sei als Hinweis auf Fortschreiten der Erkrankung zu verstehen. Biomarker-Tests können nach Einschätzung von Jönsson nie zu 100 Prozent zuverlässig sein.

Eng geknüpftes Netzwerk

Mit rund 3.000 Teilnehmern war der Berliner Kongress zwar signifikant kleiner als im Vorfeld geschätzt (erwartet wurden bis zu 5.000 Teilnehmer). Fachlich-inhaltlich und auch in Bezug auf die Beteiligung von Industrie und Medien war das größte Implantologie-Event des Jahres in Deutschland trotzdem ein großer Erfolg. Dazu trug sicher das eng geknüpfte Netzwerk in diesem Fachgebiet bei, in dem sich Fachleute aus Praxis, Wissenschaft, Industrie und Medien intensiv austauschen.

Dies brachte der Moderator eines DGI-Sitzungsabschnitts vielleicht etwas zu deutlich auf den Punkt: „Unsere Sponsoren machen es möglich, dass wir alle hier sein dürfen. Gehen Sie in die Industrie-Ausstellung“. Als Problem kann die fehlende öffentliche Forschungsförderung als Gegengewicht zur Industrie gesehen werden, deren Engagement grundsätzlich hilfreich ist. Auch für die Zahnärzteschaft ist das Sponsoring eine komfortable Praxis, die Fortbildungskosten senken hilft (siehe Zitat oben). Mehr Unabhängigkeit der Akteure in Wissenschaft, Lehre und Versorgung wäre aber im Interesse aller wünschenswert.

Dr. med. dent. Jan H. Koch, Freising 

Hinweis: Im Bericht genannte behandlungsbezogenen Empfehlungen beruhen auf Informationen aus den Vorträgen und unterliegen möglichen Irrtümern bei der Wiedergabe. Sie können in keinem Fall die klinische Einschätzung des Lesers ersetzen und müssen eigenverantwortlich geprüft werden. Details enthält gegebenenfalls die Literatur.

Dr. Jan H. Koch

Dr. med. dent. Jan H. Koch ist approbierter Zahnarzt mit mehreren Jahren Berufserfahrung in Praxis und Hochschule. Seit dem Jahr 2000 ist er als freier Fachjournalist und Berater tätig. Arbeitsschwerpunkte sind Falldarstellungen, Veranstaltungsberichte und Pressetexte, für Dentalindustrie, Medien und Verbände. Seit 2013 schreibt Dr. Koch als fester freier Mitarbeiter für die dzw und ihre Fachmagazine, unter anderem die Kolumne Oralmedizin kompakt.

Mitglied seit

6 Jahre 11 Monate

Literatur

[1] Jarnstedt J, Sahlsten J, Jaskari J, et al. Comparison of deep learning segmentation and multigrader-annotated mandibular canals of multicenter CBCT scans. Sci Rep. 2022;12(1):18598. Epub 20221103.
[2] Bayrakdar K, Orhan K, Bayrakdar IS, et al. A deep learning approach for dental implant planning in cone-beam computed tomography images. BMC Med Imaging. 2021;21(1):86. Epub 20210519.  
[3] Schwendicke F. Digital Dentistry: Advances and Challenges. J Clin Med. 2020;9(12). Epub 20201211.
[4] Flugge T, van der Meer WJ, Gonzalez BG, et al. The accuracy of different dental impression techniques for implant-supported dental prostheses: A systematic review and meta-analysis. Clin Oral Implants Res. 2018;29 Suppl 16:374-92. 
[5] DGI, DGZMK. Indikationen zur implantologischen 3D-Röntgendiagnostik und navigationsgestützten Implantologie, Langfassung, AWMF-Registriernummer: 083-011, Version 2.0, 2021, gültig bis Januar 2026; 2023.
[6] Dulla FA, Couso-Queiruga E, Chappuis V, et al. Influence of alveolar ridge morphology and guide-hole design on the accuracy of static Computer-Assisted Implant Surgery with two implant macro-designs: An in vitro study. J Dent. 2023;130:104426. Epub 20230115.
[7] Hayama H, Fueki K, Wadachi J, et al. Trueness and precision of digital impressions obtained using an intraoral scanner with different head size in the partially edentulous mandible. J Prosthodont Res. 2018;62(3):347-52. Epub 20180302.  
[8] Waldecker M, Rues S, Behnisch R, et al. Effect of scan-path length on the scanning accuracy of completely dentate and partially edentulous maxillae. J Prosthet Dent. 2022. Epub 20220330.
[9] Kernen F, Brandle D, Wagendorf O, et al. Enhancing intraoral scanner accuracy using scan aid for multiple implants in the edentulous arch: An in vivo study. Clin Oral Implants Res. 2023;34(8):793-801. Epub 20230614.
[10] Cakmak G, Cuellar AR, Donmez MB, et al. Effect of printing layer thickness on the trueness of 3-unit interim fixed partial dentures. J Prosthet Dent. 2022. Epub 20220527.  
[11] Herrera D, Berglundh T, Schwarz F, et al. Prevention and treatment of peri-implant diseases-The EFP S3 level clinical practice guideline. J Clin Periodontol. 2023;50 Suppl 26:4-76. Epub 20230604.
[12] DGI, DGZMK. Periimplantäre Infektionen an Zahnimplantaten, Behandlung“, S3-Leitlinie, Langfassung, Version 2.0, 2022, gültig bis 202712; AWMF-Registriernummer: 083 - 023, 2022.
[13] Halstenbach T, Nelson K, Iglhaut G, et al. Impact of peri-implantitis on the proteome biology of crevicular fluid: A pilot study. J Periodontol. 2023;94(7):835-47. Epub 20230201.  
[14] Fretwurst T, Muller J, Larsson L, et al. Immunohistological composition of peri-implantitis affected tissue around ceramic implants-A pilot study. J Periodontol. 2021;92(4):571-9. Epub 20200917.